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Phurde bajval phurde
- Genre
- langsames Lied
- Thema
- politisches Lied
- DOI
- doi.org/10.21939/mar0-0q04
Inhalt
Aufnahme
Vier Tage nach dem Attentat von Oberwart am 4. Februar 1995, bei dem vier Roma durch eine Rohrbombe starben, bat Ruža Nikolić-Lakatos die Ethnomusikologin Ursula Hemetek Phurde bajval phurde aufzunehmen. Sie sang, damit die jungen ermordeten Roma nicht vergessen werden. Das Lied basiert auf einer alten Melodie mit einem neuen Text, der von den Toten, vom Leid der hinterbliebenen Familien und vom Überleben spricht.
musikalische Transkription auf Basis vom Begleitheft zur CD Amare gila - Unsere Lieder / Our Songs
Am 4. Februar 1995 kam es bis zum damaligen Zeitpunkt schwersten politischen Anschlag in der Geschichte Österreichs seit dem Zweiten Weltkrieg. Vier junge Roma wurden durch eine Rohrbombe in der kleinen Ortschaft Oberwart im Südburgenland umgebracht. Der Attentäter, ein Rechtsterrorist, war über die Roma durch die damals aktuellen politischen Kampagnen gut informiert. Im Jahr 1989 war in Oberwart der erste Roma-Verein und mit ihm eine politische Bewegung gegründet worden. Die Anerkennung der Roma als österreichische Volksgruppe folgte im Jahr 1993. Der Attentäter maskierte die Rohrbombe mit einem Schild mit der Aufschrift „Roma zurück nach Indien“, was angesichts der über 1000-jährigen Wanderungs- und Vertreibungsgeschichte der Roma besonders zynisch erscheint. Er versetzte durch das Attentat das Land in Aufruhr.
Ruža Nikolić-Lakatos war nicht verwandt mit den Oberwarter Toten, aber sie waren Angehörige ihres Volkes. Als sie die Nachricht vom Attentat erhielt, weinte sie zuerst und war in tiefer Trauer versunken. Dann tat sie etwas, das in der Tradition der Lovara üblich ist. Lieder werden über Ereignisse kreiert, um die Kunde darüber weiterzutragen, dass der Schmerz, das Leid und die Toten nicht vergessen werden. Die Melodien stehen dabei in der Lovara-Tradition und sind überlieferte Weisen, wie auch Ruža sie von ihrer Großmutter gelernt hatte. Der Text von Phurde bajval phurde stammt von Ruža selbst, unter Verwendung des traditionellen Formelschatzes der Sprache der Lovara. Die damals 50-jährige Sängerin drückte ihren Schmerz und ihre Trauer auf eine Weise aus, die sie von ihren Vorfahren übernommen hatte, wobei ihr Gesang ein individueller Ausdruck ist, getragen von den kulturellen Praktiken, mit denen sie aufwuchs. Ruža legte mit den Mitteln ihrer Tradition Zeugnis ab und bezog so Stellung zum erschütternden Attentat.
Die Ethnomusikologin Ursula Hemetek beschreibt Phurde bajval phurde als „eine der bewegendsten Aufnahmen“, die sie jemals in ihrer langen Feldforschungsarbeit mit der Sängerin machte. Die Aufnahme entstand am 10. Februar 1995, fünf Tage nach dem Attentat, im Haus der Familie Nikolić. Im Hintergrund kann die Küchenuhr ticken gehört werden. Die Forscherin vermerkt, dass Ružas Stimme an diesem Tag tiefer als sonst und gezeichnet von Schmerz und Entsetzen war.
Die Reaktionen in Österreich auf den Anschlag waren vielseitig. Es gab ein großes Staatsbegräbnis und die Bundesregierung erschien fast vollzählig. Ursula Hemetek kommentiert, dass die Nation gespalten war: Die einen waren plötzlich die besten Freunde der Roma, obwohl sie nie einen Rom kennengelernt hatten und die anderen bedauerten an den Stammtischen, dass die Bombe nicht mehr als vier 'Zigeuner' erwischt hätte. Es hagelte Benefizveranstaltungen, Solidaritätskundgebungen und Roma-Kulturveranstaltungen. Auch Roma-Musiker:innen waren danach hoch gefragt, hauptsächlich aber jene Musikstile, die den bekannten musikalischen Klischees entsprachen.
Am 6. März 1995 fand in der Wiener Stadthalle ein großes Benefiz-Konzert zugunsten der Hinterbliebenen der vier Toten von Oberwart statt. Ruža war eingeladen, mit Phurde bajval phurde aufzutreten und teilte sich mit Größen der damaligen Popmusikszene wie Udo Jürgens und Reinhard Fendrich die Bühne. Phurde bajval phurde wurde später auch in die CD Stimmen gegen Hass und Gewalt als unüberhörbare Stimme einer Betroffenen integriert.
Quellen und weiterführende Informationen:
- Hemetek, Ursula. Mosaik der Klänge. Musik der ethnischen und religiösen Minderheiten in Österreich. Wien: Böhlau, 2001.
- Hemetek, Ursula. "Sostar - Warum(Zakaj)? Artikel anläßlich der Bombenattentate in Oberwart" In: Stimme von und für Minderheiten 14 (1), 1995. S. 17. PDF
- Hemetek, Ursula. „Oberwart. Eine (Re)Aktion im Wiener Interkulttheater.“ In: Stimme von und für Minderheiten 22(1), 1997. S. 26. PDF
Kommentare
Man hört, wie Ruža Nikolić-Lakatos der Ethnomusikologin Ursula Hemetek den Text von Phurde bajval phurde diktiert, sodass diese ihn aufschreiben kann. Dann suchen sie gemeinsam nach einer stimmigen deutschen Übersetzung. Die Aufnahme entstand im Rahmen der Feldforschungsarbeiten von Ursula Hemetek am 10. Februar 1995 im Haus der Familie Nikolić.
Fast 30 Jahre nach dem Attentat reflektiert und kommentiert die Ethnomusikologin Ursula Hemetek den Entstehungs- und Aufnahmeprozess von Phurde bajval phurde.
Liedtext
Strophe 1
Phurde, bajval, phurde | Wehe, Wind, wehe, |
jaj de paj kopača e patra hej, | die Blätter von den Bäumen, |
te šaj šaradjon de tele | dass die vier Roma-Burschen |
kodoj laše šave. | zugedeckt werden. |
Strophe 2
Kurke de teharin | Am Sonntag früh |
jaj de kodo hiro šundam hej, | erhielten wir die Nachricht, |
kaj bombenca mudarde, mamo, | dass vier Roma-Burschen |
štar romane šaven. | durch eine Bombe getötet worden sind. |
Strophe 3
Ašile korkora | Viele kleine Kinder |
jaj de e but cigne šave hej, | sind zurückgeblieben, |
jaj de čore taj korkora, mamo, | arm und allein, |
taj vi lengo nipo. | die Kinder und die Familien. |
Strophe 4
Devlam, Devlam, bara, | Mein Gott, großer Gott, |
jaj de sostar kodo kherdan hej, | warum hast du zugelassen, |
te mudaren e gaže, aba | dass gaže (Nicht-Roma) die jungen Burschen |
kodoj terne šaven. | umgebracht haben. |
Strophe 5
Bara raja Devlam, | Großer Gott, |
jaj de šukares mangav tu hej, | ich bitte dich von ganzem Herzen, |
Žutin e bute Romenge | hilf den vielen Roma |
taj ker amenge pača. | und gib uns Frieden. |
Video
Ausschnitt aus der ORF-Produktion Kultura: Roma, in dem Ruža Nikolić-Lakatos Phurde bajval phurde singt. Das Video wurde im Haus der Familie 1995 gedreht und integriert Bilder vom Begräbnis in Oberwart.
In seinem Buch Landfahrer. Auf den Wegen eines Rom (2000) kommentiert Mišo Nikolić die Entstehung dieses Videos:
„Nach dem Bombenanschlag hörten wir jeden Tag die Nachrichten im Fernsehen, und die Ruzsa weinte jedes Mal dabei und dachte, mein Gott, was wäre, wenn mit unseren vier Söhnen so etwas passierte. So machte sie einen Text auf die vier Roma, den sie auf eine uralte Romamelodie sang. Eine Frau K., die beim Fernsehen arbeitete, wusste davon und wollte unbedingt eine Aufnahme von dem Lied haben. Sie kam mit einem Kamerateam zu uns nach Hause und sie nahm auf, wie Ruzsa das Lied sang und wir, Sascha, Mischa und ich, sie begleiteten. Dann kam der Film im Fernsehen. Die Frau K. hat das unwahrscheinlich schön gemacht. Während des Liedes von Ruzsa wurde die Stelle gezeigt, wo die vier Roma in die Luft gegangen waren, dann die brennenden Kerzen und Blumen, die die Leute an dieser Stelle niedergelegt hatten, dann der Friedhof und die vier Särge, die vielen Teilnehmer beim Begräbnis und der freie Himmel. Und zu all diesen Bildern hörte man Ruzsas Lied, und zwischendurch zeigten sie Aufnahmen von Ruzsa, wie sie singt und weint, und von uns, wie wir sie mit den Instrumenten begleiten.“
Quelle:
- Nikolić, Mišo. Landfahrer. Auf den Wegen eines Rom. Grünen Bildungswerkstatt Minderheiten (Hrsg.) Klagenfurt: Drava, 2000
weiterführendes Material zum Attentat von Oberwart
Artikel und Berichte
- Kontext und Aufarbeitung des Attentats von Oberwart (inklusive Biographien der Opfer, Oberwarter Erklärung der Österreichischen Volksgruppen, Gedenken an das Attentat, Polizeiprotokolle, etc.) (https://www.burgenland-roma.at/index.php/geschichte/das-attentat)
- ORF Bericht: „Gedenken an Roma-Attentat vor 25 Jahren“ (4. Februar 2020: https://burgenland.orf.at/stories/3033007/)
- ORF Bericht: „Das Polizeiprotokoll zum Roma-Attentat“ (4. Februar 2020: https://burgenland.orf.at/stories/3033152/)
- Bericht: Wächter über Oberwart, Ein Projekt des Offenen Hauses Oberwart: „Das Attentat" (http://www.waechter-oberwart.at/roma-denkmal/das-attentat/)
- Ansprache von Gerhard Baumgartner: "Das Ende der Illusionen" (https://www.doew.at/neues/gerhard-baumgartner-das-ende-der-illusionen)
Radiobeiträge
- Ö1 Beitrag / Mittagsjournal vom 6.2.1995 zu Oberwarter Attentat: https://www.mediathek.at/journale/suche/treffer/?pool=BWEB&uid=114F4E7C-213-000D5-00000C00-114E66EA&vol=101967&cHash=e3c7adb65b5ba6b9dfc4c00d5aa18d13
- Ö1 Beitrag / Mittagsjournal vom 3.10.1999 zum Hafturteil von Franz Fuchs mit Reaktionen von z.B. Stefan Horvath: https://www.mediathek.at/journale/suche/treffer/?pool=BWEB&uid=118C1AD4-1C5-0070E-00000128-118B6032&cHash=5e5010514a7a96b6b1c66d04e973b380
Publikationen
- Hemetek, Ursula. Mosaik der Klänge. Musik der ethnischen und religiösen Minderheiten in Österreich. Wien: Böhlau, 2001.
- Hemetek, Ursula. "Sostar - Warum(Zakaj)? Artikel anläßlich der Bombenattentate in Oberwart." In: Stimme von und für Minderheiten 14 (1), 1995. S. 17. PDF
- Hemetek, Ursula. „Oberwart. Eine (Re)Aktion im Wiener Interkulttheater.“ In: Stimme von und für Minderheiten 22(1), 1997. S. 26. PDF
- Horvath, Stefan. Katzenstreu. Erzählung. Oberwart: edition lex liszt 12, 2007.
Fotos
Mahnmal in Oberwart
© Petar Tyran (1995)
Ruža Nikolić-Lakatos singt das Lied Phurde bajval phurde zum ersten Mal am 10. Februar 1995 bei der Pressekonferenz der Initiative Minderheiten zum Attentat von Oberwart.
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